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Randnotiz: Ännchen

Eine Glocke läutet den Start. Ännchen von Vechta statt Tharau. Wer warst du? Ännchen. Miauende Vögel. Rote Kappe. Rotkäppchen und Ännchen. Schritte von links. Ein Rollstuhl wird an uns vorbeigeschoben. „Hallo, moin!“, „(…) war grad beim Bahnhof, kucken wann der Zuch nach Cloppenburg fährt.“ „Jede Stunde.“ „Ja, bloß wann ist die Stunde?“ Gatter fällt zu. Düsenflieger über uns. Vogelgezwitscher. So gerne möchte ich die neu installierte Vogelerkennungs-App öffnen, um sie zuzuordnen. „Krah, Krah, Krah.“

Gezwitscher in dem Busch, der unten glatt geschnitten und oben wild ist. Wie ein grüner brennender Turm. Die Krähe bekomme ich noch ohne App hin. Knallen des Gattertors. Das zweite E-Bike düst vorbei. Eine Fliege landet auf meinem Kopf und eine auf meinem Finger. Ännchen liegt vor uns. Da drüben steht nur „Familie“. Eine ganze Familie liegt da. Wie sonntags im Familienbett, nur unter der Erde.

Heckengebilde vor mir. Grüne Metallbank unter mir. Wasser wird eingelassen. Ganze Sträuße liegen im Müll. Stoßzeit auf dem Friedhof. Ein Grab ist wie eine kleine Landschaft. Drei Menschen begrüßen sich. „Moin.“, „Moin.“, „Moin.“ Frau mit Grabkerze in der linken. Sie schweigen kurz, wenn sie bei uns vorbeigehen. Kreuz mit Stiefmütterchen-Schale links an der Friedhofswegkreuzung. Ich denke über den Turmbusch nach. Man könnte nicht hinaufklettern an seinen glatten Wänden. Oben darf er wild auseinander fallen.

„(…) das Grab auch fertig.“ zwei Menschen laufen vorbei. „Hier gibt’s auch einen Friedhofsgärtner. Der pflanzt dir das Grab auch fertig, ne?“ Husten eines Mannes. Weiße und dunkelblaue Strickmütze. Sie halten sich an den Händen. Die Frau sagt: „Schön ist was anderes. Also ganz ehrlich. Große Klappe und nix dahinter. Mama war immer jemand, die was Blühendes gern hatte.“ Quietschende Schuhe. „Aber das hier. Das ist ja nichts!“ Er hält eine neue rote Grabkerze. Die alten roten Kerzen landen im Friedhofsmüll. Vielleicht wurde dem Friedhofsgärtner ja das Grab überlassen.

Ein Viech in meinem Haar. Die quietschenden Schuhe kommen zurück. Ihr Grabbesuch dauerte zwei Minuten. Sie laufen Richtung Ausgangstor. Vor Ännchens Grab sind ebenfalls Stiefmütterchen. Und vor ihrem Grab zwitschert nun ein Spatz. Das Tier verheddert sich in meinem Haar. Die beiden mit Wollmützen gehen zurück. Sie haben plötzlich eine Kehrtwende vor dem Gatter gemacht und laufen in einer parallelen Friedhofsgasse nochmal am Grab vorbei, aber schauen nicht mehr hin.

Vogelgesang, vielleicht eine Amsel. Antwort von da drüben. Krähen streiten, Amseln quatschen. Schritte. Das Viech ist eine Spinne und lässt sich auf meine Hand ab. Der Spatz ist vom Grab Ännchens ins Heckengebilde übergewechselt und trällert von dort vergnügt. Das Gattertor quietscht. Dann knallt es. Im halbrasierten Busch sitzt die Amsel nun. Wieso setzen sie sich nicht zusammen in einen Busch? Dann müssen sie nicht so laut rufen. Wieder Glockenläuten. Glaube, das Gatter kann nicht geräuschlos geschlossen werden.

Mann mit gelbem Hoodie, Jeansjacke und Umhängetasche trägt zwei weiße Grablichter in der linken. Die Spinne an meiner Jacke kommt wieder zurück hinauf in mein Haar. Quietschen des Gattertors, dann Knallen. In einer Baumkrone außerhalb des Friedhofs sitzen die Krähen. Man sieht sie, da noch kein Laub auf den Bäumen ist. Von 1911 bis 1983 lebte Ännchen. Der Mann mit gelbem Hoodie sagt laut „Hallo, moin.“ und ich glaube, er redet mit dem/der Verstorbenen, denn ich sehe niemanden bei ihm. Dann höre ich ein Feuerzeug, er zündet die mitgebrachten Kerzen an. Eine dicke Hummel fliegt brummend an unserer grünen Metallgitterbank vorbei.

Der Mann auf dem E-Bike, der bei unserem Betreten des Friedhofs hinter uns fuhr und sagte „Zwei schöne Frauen kann man nicht so einfach umfahren!“ wirft nun während der Fahrt das ausgetauschte leere Grablicht in den Friedhofsmüll. Er trifft nicht und flucht laut. Wie blökende Schafe klingen die Krähen. Himmelsschafe. Dunkle Wolken. Doch er dreht nicht nochmal um. Der Wecker klingelt. Und in dem Moment sehe ich noch drei Gänseblümchen neben dem großen Heckengebilde.

*Unsere Randnotizen schreiben wir zeitgleich am gleichen Ort und fügen unsere Beobachtungen im Anschluss zusammen.