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VERMESSUNGEN 2: „Ansichten eines AiR“

Anfangs ging ich oft ins Unterholz, flüchtete mich in den Füchteler Wald. Über das flache Land zu gehen, machte mir Angst, denn dort fehlte jeder Halt. Kein Fernsehturm zur Orientierung, kein Gebirge – oder wenigstens eine kleine Hügelkette, eine belanglose Erdaufhäufung, ein Sonnenhang oder Rodelberg aus Weltkriegsschutt –, nichts, das mir hätte Geborgenheit vermitteln können. Auch kein Fluss, der Geschichten mit sich trägt, kein Meer, das einen entführt, nur maßlose Weite.

Also hielt ich den Blick starr zu Boden gerichtet, suchte nach Pilzen, immer leicht geduckt. Diese Haltung hatte ich mir schon am ersten Tag angewöhnt, nachdem ich mir in meiner Mühle binnen weniger Stunden bereits ein gutes Dutzend mal den Kopf gestoßen hatte – denn nichts kommt ohne Preis, auch nicht die Gemütlichkeit niedriger Decken.

Wenn von Füchtel und Welpe als Wald gesprochen wird, ist das nur zum Teil richtig. Zum anderen Teil sind es vor allem Golfanlagen, Pferdekoppeln, Äcker und Felder, die das Gebiet bestimmen – abwechslungsreich für Spaziergänger*innen und Radfahrende. Für einen Wunderling wie mich konnte der Wald aber nicht tief genug sein. Denn egal, wo ich mich herumtrieb, befand ich mich in Sichtweite anderer Müßiggehender, konnte mich nicht verlieren. Erst mit der Zeit begriff ich, dass dies ja auch der Sinn nicht sein konnte – ich war schließlich nicht gekommen, um etwas zu verlieren, sondern vielmehr, um etwas zu finden. Und zwar das Vechtaer Seelenleben, jenes unscheinbare, schüchterne Wesen aus dem Moor, dessen Erforschung sich auch meine Vorgänger*innen schon gewidmet hatten – natürlich allesamt ohne Erfolg und letztlich bitterlich zu Grunde gegangen an der Aufgabe. Und ich war der nächste Artist auf der Schlachtbank.

Aber zunächst war ich auf der Suche nach Pilzen. Marone, Tintenschöpfling, Parasol. „Moin“, sagten die Leute und mochten sich fragen, was ich trieb, und ich kam mir vor wie ein Creep, wobei ich nicht bestreiten kann, dass ich das Gefühl genoss. Verkniffen grüßte ich zurück und kicherte vor mich hin, so haben sie etwas, worüber sie nachdenken können, dachte ich. Was sucht der Kerl mit dem pinken Stirnband da am Wegesrand, was krabbelt er auf Knien durch die Büsche? Denkanstöße bieten – auch das eine Aufgabe des AiR. Wenn ich sie sah, fragte ich mich dagegen meistens nicht, was sie taten oder wer sie waren. Sie spazierten halt. Zogen plaudernd durch den Forst. Taten nichts Aufregendes. Mir schien, sie wären die besseren Schriftsteller und ich das bessere Anschauungsobjekt.

Es ist schon seltsam, wenn einer durchs Gestrüpp kreucht. Warum? Weil es ein deutsches Gestrüpp ist. Jede Fläche in diesem Land ist klar nach Nutzen und Funktion definiert. Eine Wiese ist nicht zu betreten, es sei denn von Tieren und Bauern. Ein Acker wird von einem Traktor gepflügt, das ist sein einziger Zweck, und jegliche Zweckentfremdung ist als schädlich zu betrachten. Ein Feldweg ist von land- und forstwirtschaftlichen Geräten zu befahren, und wer sich abseits der Wege bewegt, muss Jäger*in oder Waldarbeiter*in sein, gekennzeichnet durch die Insignien ihrer Tätigkeit: Arbeitskleidung, speckige Hüte oder Helme, Warnwesten, Waffen oder Baumfällwerkzeug. Andere Personen sind suspekt – und höchstwahrscheinlich wahnsinnige Axtmörder. Aufatmen lässt es sich allenfalls, wenn die betreffende Person einen Korb zum Pilzesammeln bei sich trägt, das geht noch durch. Ich ziehe allerdings immer korblos los, packe nur einen Jutebeutel ein für den Fall, dass sich ein Pilz auftut, aber so ein Beutel weist mich beim Grenzübertritt in den Wald nicht aus – ich könnte genauso gut (oder noch viel eher) einer sein, der dort seine Notdurft verrichtet, Rauschgift konsumiert oder ungefragt und unerlaubt Bäume umarmt. In jedem Fall einer, der Ungehöriges tut. Vielleicht ist das der Grund für die Beliebtheit von Hunden: Im Zweifel kann man eigene Abweichungen immer auf sie schieben.

People are strange, when you are strange, hat mal ein Bekloppter gesungen. Aber in Vechta waren sie gar nicht strange. Sie waren alle normal. Vollkommen normal. Freundlich und gesund. Entweder stimmte die Liedzeile nicht, weil meine Seltsamkeit sich nicht auf sie übertrug – oder auch ich war normal. Voll normal. Ich hatte nur Komplexe, die musste ich abstreifen, denn es war nicht fair, mein eigenes Misstrauen auf die Leute zu projizieren.

Und so wagte ich mich immer weiter hervor ins freie Gelände und schließlich in den Kern der Stadt, unter die Leute. Ich entdeckte den Zitadellenpark, ein Ort, der in Berlin überlaufen wäre von Sporttreibenden, Picknickenden und Trinkenden, zumal bei dem schönen Abendlicht und auch im Herbst. Hier aber wurde er nur von wenigen Leuten genutzt. Einige Student*innen saßen auf den Bänken und in den abgelegeneren Teilen lümmelten vereinzelte Gruppen kiffender Kids. Der Rest – und das ist im Oldenburger Münsterland wohl kein Wunder, wo der Eigenheimanteil mit 80 Prozent doppelt so hoch liegt wie im deutschen Schnitt –, der Rest war zu Hause. Grillte auf der eigenen Terrasse und hatte die eigenen Kinder auf den Schaukeln im eigenen Garten gut im Blick.

Man kommt in Vechta nicht umhin, den Wohlstand zu bestaunen. Nicht, weil damit geprotzt würde. Im Gegenteil. Die Innenstadt ist recht schnuckelig, dabei im Klientel bunt gemischt, kein Gebäude höher als drei Stockwerke, die Restaurants und Geschäfte bodenständig. Es muss wohl die allgemeine Sauberkeit sein, die den Wohlstand sofort bemerkbar macht – die schlichte Abwesenheit irritierender Elemente (verwilderte Brachflächen, Obdachlose, Sperrmüll, Lärm oder verfallene Industriekomplexe), die Akkuranz sorgfältig getrimmter Rasen und liebevoll gestalteter Insektenhotels. Hier herrscht nicht die aufwändig in Stand gehaltene alte Pracht, wie ich es etwa aus reichen süddeutschen Städten kenne, nichts hier ist alt, nicht einmal die Burg – sie ist nachgebaut.

Und die Menschen? Beim Volleyball in der Sporthalle West lernte ich die Besten von ihnen kennen. Aufgeschlossen und voller Humor, ich fühlte mich sofort angezogen – und angenommen. In der Uni, die auch inhaltlich erstaunlich progressiv ausgerichtet ist, empfing man mich herzlich, und bei den Gesprächen mit den verschiedensten Leuten zeigte sich bald: Ich musste nicht ins Unterholz gehen. Ich konnte einfach so hier sein, unter ihnen. Und plötzlich war auch der Zitadellenpark voller junger Leute, Hunderten von Erstsemestlern, dazu gut zwei Dutzend Teens, die auf der Fläche zwischen dem Museum Zeughaus und dem Skaterplatz Bier-Pong spielten. Aus den Boxen schallte Seeed, und sogar zwei Verrückte konnte ich im Bild ausmachen: eine fluchende Oma am Rollator und einen Zeugen Jehovas, immerhin, der auf eine Gruppe Jugendlicher einpredigte, sie waren so wohlerzogen, ihn nicht auszulachen.

Ja, ich bin streng mit dieser Stadt. Und zugleich macht sie es mir schwer, streng zu sein. Könige hatten Hofnarren zur Unterhaltung und dafür, dass sie die unangenehmen Wahrheiten aussprachen – Vechta hat mich. Und wenn man mich fragt, dann sag ich: Mehr Possen – weniger Posen – braucht die Welt!