Das Vorhaben in groben Zügen: Spielen wir Stadt-Land-Kluft? Hören wir auf damit?

In meiner Kindheit träumte ich von einem Leben in der Stadt, deren Luft bekanntlich frei macht. Als ich dann irgendwann tatsächlich im Prenzlauer Berg wohnte, beschlichen mich erste Zweifel: Ho-ho-Holzspielzeug, Biomarkt mit Zwiebeln aus der Region und das große Clubsterben, weil ab 22 Uhr kein Quantum Krach den seligen Schlaf der Prenzlberger stören durfte – „Wenn es nur einmal so ganz stille wäre …“, wünschte sich Rilke einst; hier war es das und es kotzte einen an. Längst hatte die Sehnsucht nach Ruhe und Sicherheit das urbane Freiheitsversprechen abgelöst. War das Berlin oder Bietigheim-Bissingen? Ich war enttäuscht darüber, dass die„Idiotie des Landlebens“ (Marx) sich klammheimlich in ihrem Gegenstück, der Stadt, eingenistet zu haben schien. Und mit mir ärgerten sich noch einige andere: In der ehedem quietschfidelen Kastanienallee hing ein mahnendes Plakat an der einzigen noch unsanierten Hauswand: „Erst wenn die letzte Eigentumswohnung gebaut, der letzte Klub abgerissen, der letzte Freiraum zerstört ist, werdet ihr feststellen, dass der Prenzlauer Berg die Kleinstadt geworden ist, aus der ihr mal geflohen seid“.

Irgendwann musste ich einsehen, dass es in den meisten Städte nicht anders war und als mein naives Stadtbild genügend Risse bekommen hatte, schlug die Verehrung in Abscheu um. Ich begann, mich nach der unbeschwerten Existenz auf dem Land zu sehnen, wo die Holzdielen in den windschiefen Fachwerkhäusern knarren und rotbäckige Knaben in saftige Äpfel beißen, die sie soeben von wilden Obstbäumen gepflückt hatten. Mittelpunkt dieses idyllischen Städtchens, das ich mir vorstellte, ist ein verspielter Springbrunnen, dessen wasserspeiende Figur sich ganz fabelhaft in die herausgeputzte Häuserreihe am Marktplatz einfügt. Auf den Hügeln jenseits der alten Stadtmauer flechten sich die Kinder Blumenkränze und springen durch die Wiesen; der Wald ist nicht weit. Oh Bauer, nimm mich mit auf die Felder! Oder aber man macht es wie Valerio: „Ich werde mich indessen in das Gras legen und meine Nase oben zwischen den Halmen herausblühen lassen und romantische Empfindungen beziehen, wenn die Bienen und Schmetterlinge sich darauf wiegen, wie auf einer Rose.“ Es war ein Versprechen auf unentfremdete Schlichtheit, das diesen Träumen von Landarkadien innewohnte.

Doch wie sehr musste da der Blick ins wirkliche Dorf enttäuschen: Proleten, die es früher fast ausschließlich, heute aber kaum noch in den Städten gab, saßen hier als Prolls – kulturelle Spaltprodukte aus der proletarischen Erbmasse – an den Bushaltestellen und bildeten lässig kleine Spuckpfützen unter ihren Sitzen. Ihre Prollinen hatten wasserstoffperoxidblondes Haar. Nebenan stand ein Discounter und brachte die kunterbunte Warenwelt auch ins hinterletzte Kaff. Überhaupt zeigten sich die ruralen Menschen erstaunlich offen für die Grellheit unserer Zeit, nichts Kitschiges war ihnen fremd – man inspiziere nur einmal den Weihnachtsschmuck, der in ihren (Schau-)Fenstern aggressiv blinkt, als hegten sie die Absicht, mit aller Macht, die der Leuchtreklame zur Verfügung steht, ein Produkt zu bewerben. Ich musste einsehen: Das Dorf war eine Stadt, nur einen Schritt langsamer. Da aber auch die Stadt nur noch ein müder Abklatsch vergangener Glanzzeiten war, zerbröselte mein mühsam zusammengeträumtes Weltbild.

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Als also auch dieser Blütentraum sich zerschlagen hatte, wandte ich mich enttäuscht ab von allen Stadt-Land-Bildern. Ich hegte alsbald einen Groll gegen beide und mich beschlich der Verdacht, dass sie Siedlungs- und Lebensformen eines vergangenen Zeitalters sein mussten, mit dem es jetzt zu Ende ging; dass ein großer Höllenschlund sie beide verschlungen hatte und nun einen ununterscheidbaren Brei von „Stand“ und „Ladt“ ausspie. Es war nicht zum Aushalten. Es musste doch Klarheit geben!

Mir wurde klar: Der Fehler lag in der Schwärmerei. Ich musste also die Methode wechseln und mich von der starren Zweiheit von Stadt und Land lösen – weg vom wildromantischen Traum und hin zur Unmittelbarkeit des Flaneurs, der umherschweift und aufschnappt, was – durchaus zufällig – an ihn herangetragen wird. Es können dann ganz kleine oder alltägliche Dinge sein, auf die er stößt; in ihnen das Größere und Gemeinsame aufzuspüren, ist als Aufgabe mit ihrer Niederschrift verbunden. Ich dachte mir: Man muss es machen wie Karl Kraus: „Den Geräuschen des Tages lauschen, als wären es die Akkorde der Ewigkeit“; sich einmal für ein paar Wochen hineinbegeben ins Getümmel einer Siedlung, durch ihre Straßen spazieren, sich an den Tresen setzen und auch mal mit den Leuten reden, dabei sehr genau beobachten, wo Spuren von Stadt und Land auftauchen. Und das dann aufschreiben und ein paar Essays daraus machen, in denen man seine Begriffe von Stadt und Land überprüft.

Die Eignung Vechtas für ein solches Vorhaben steht außer Frage. Ich war zwar noch nie da, aber ein paar Sachen fallen mir schon dazu ein: Pferde und Moor, Universität und Basketball. Das erste Begriffspaar verweist aufs Land, das zweite auf die Stadt – schon in diesen Erstassoziationen, die, so scheint mir, nicht ganz aus der Luft gegriffen sind, offenbart sich die charakterliche Unklarheit Vechtas; ob es nun dem städtischen oder dem ländlichen Lager zuzurechnen ist, lässt sich nicht eindeutig sagen. Vermutlich finden wir beides hier.

Und dann will ich schauen, mit welchem Recht der Abgesang auf urbane und rurale Siedlungsformen tatsächlich angestimmt werden darf; und ob aus der stadt-ländlichen Erbmasse nicht doch noch die eine oder andere Sache gerettet werden kann.