Spaziergang durchs Märchenbuch

Wenn ich an einem Ort zum ersten Mal übernachte, dann habe ich unweigerlich die Stimme der Königin im Ohr, die auf meiner alten Kinderkassette zu der Prinzessin auf der Erbse sagt: „Vergiss nicht: Was man die erste Nacht in einem fremden Bette träumt, das wird in Erfüllung gehen.“ Diesen Satz werde ich nicht mehr los. Und hoffe natürlich immer auf besonders schöne erste Träume.
Meine erste Nacht in Vechta war leider traumlos. Der Tag fühlte sich dafür an wie ein Spaziergang durch ein Märchenbuch, auf musikalischen Wegen in die Stadt: Mozartstrasse, Bach, Beethoven, Schubert… Die Namen waren mir bereits auf dem Stadtplan ins Auge gesprungen und haben mich gleich vermuten lassen, dass mir dieses Quartier gefallen würde. Vielleicht entdecke ich ja ein Haus, das aus der Reihe tanzt, sagte ich mir. Aussergewöhnliche Orientierungspunkte. Auf der Musikroute ist es jedoch schwieriger, ein Haus zu finden, das nicht aus der Reihe tanzt. Von einem Anstrich in grellem Hornissengelb über frühlingsverweigernde Weihnachtsdeko an den Fenstern bis zu bunten Fahrrädern auf der Laube ist alles zu sehen.
Orientieren kann ich mich am besten an den Gartengewächsen, die teilweise abenteuerliche Vorlieben der Vechtaer zum Ausdruck bringen. Würde man als Schüler solche Bäume in sein Heft malen, gäbe es garantiert eine ungenügende Note. Sowas gibt es doch nicht – dachte ich bis heute auch. Aber in Vechtas Vorgärten sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Die Bäume sehen hier aus wie runde Besen, die verkehrt herum im Boden stecken, wie futuristische Kompositionen aus grünen Blätterkugeln oder wie eine Efeu-Skulptur, die in sich verschachtelt gleichzeitig senkrecht und waagrecht wächst. Dazu eine mächtige Efeu-Fassade und ein Efeu-Bogen am Eingang.
An märchenhaften Kulissen mangelt es nicht. Und von Hänsel und Gretel war auch schon die Rede, als ich den Tipp bekam, den Waldweg zum Restaurant „Holla die Waldfee“ niemals abends allein unter die Füsse zu nehmen. „Da ist es dunkel wie bei Hänsel und Gretel.“ Natürlich bin ich jetzt neugierig, was sich hinter der Waldfee verbirgt. Aber ich gehe bestimmt nicht ohne Kieselsteine.