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Randnotiz: Mittagspause

20.03.2024, mitten in Vechta.

Mittagspause ist vorbei. „Tee Nr. 20“ steht am Teebeutel. Die zwei Damen am Tisch vor uns haben Rosa an. Es geht um den Gürtel der Älteren.

„Soll ich dir da ein oder zwei Löcher reinmachen lassen?“ fragt die Jüngere. Wenn sie es machen würde, sei es nicht so peinlich.
„Erstmal Kaffee austrinken, sonst wird er kalt.“ die Ältere. 
„Gib mir deinen Gürtel…“

Die Ältere zieht sich den Gürtel aus.

„Eins reicht.“
„Ich mach zwei.“
„Ok.“
„Das zahl ich dir.“
„Ne.“

Rascheln einer Keksverpackung an einem anderen Tisch, an dem eine rot gekleidete Dame sitzt.

Der rosa Tisch: 
„Wir trinken gleich noch einen Prosecco, wenn du wiederkommst.“ 
„Ja-a.“
„Warte, ich muss dir noch Geld geben.“
„Nei-ein.“
„Jetzt wollen wir erstmal sehen, dass es ordentlich wird. Bis gleich.“

Die Jüngere steht auf und man hört sie im Nebenraum an der Theke sagen: „Ich gehe eben mal nach nebenan. Tschüss.“

Die Ältere bleibt zurück. Schaut auf die Stellkarte, auf der neues Personal angeworben wird. Offenbar ist die ältere Dame in letzter Zeit schlanker geworden. Manchmal ist es gar nicht so gut, wenn man zu viel abnimmt, auch wenn die Gesellschaft eher das gegenteilige Problem hat.

Blick nach draußen. Jetzt geht die Frau wohl Löcher in den Gürtel stechen. Vorhin hat die Frau, deren Gürtel nun enger gemacht wird, berichtet, dass sie froh sei, dass das Haus verkauft wird. Die Frau am Einzeltisch sieht traurig aus. Sie hat keine Freundin dabei. Verzierter Teppich, Gänse, Korb, Kronleuchter. Die Autos dröhnen über die gepflasterte Straße. Zwei Motorräder hinterher. Auch E-Bikes, die aber geräuschlos. Ampel wird rot. 

Kleine Probierkekse mit Mandeln auf unseren Untertassen. Sie sind hier selbstgemacht. Die Rote hat sich eine ganze Packung davon bestellt. Die Rosane mustert uns. Denkt vielleicht: Die jungen Leute mit ihren Handys. Im Verkaufsraum wird bestellt. Hier kennt man sich. 

Ein dickes Motorrad wummert vor der Einfachverglasung. Tasse landet auf Untertasse. Knistern. Die Rote nimmt sich noch einen Keks. Die jüngere Rosane kommt mit dem enger gemachten Gürtel wieder. Also ist jetzt Zeit für Prosecco.

„Was hast du bezahlt?“
„Das sach ich dir nicht.“ 
„Moni!“
„Ich freu mich, wenn ich dir auch mal was Gutes tun kann.“
„Dann trinken wir jetzt noch einen.“

Die Ältere zieht sich den Gürtel an.

„Super. Wo hast du das gemacht?“
„Bei dem Schuster da drüben.“
„Ich brauch sonst gar nicht zum Schuster.“
„Aber da standen genug Leute.“
„Ja, wenn du Ledersohlen hast.“ Moni hat rote Lackschuhe. Keine Ledersohlen. 
„Da wär ich jetzt auch gar nicht drauf gekommen, Moni. Wir trinken jetzt noch was. Es ist auch nichts, wenn sie nicht stramm genug sind, die Gürtel.“
„So, und jetzt bist du glücklich!“ sagt Moni.

Klingt nach Befehl. Die Ältere fädelt die Gürtelschnalle ins neue Gürtelloch. 

Aus dem Verkaufsraum kommen Schneidegeräusche der Brotschneidemaschine. Ich achte auf die Schnitte und habe das Gefühl, es muss sich um ein längeres Brot handeln.

„Gleich machen wir das mit dem Rotlicht.“
„Ja, ich dachte mir, wart mal bis Moni kommt. Bevor du da verbrennst.“ 
„Ne, da kann nichts passieren.“
„Ich hab für jeden zu Weihnachten so ein Ding gekauft. Da passiert nichts. Du tust die Eieruhr umdrehen und wenn das Ding fertig ist…“
„Dachte mir, muss erst Moni kommen, sonst verbrennst du dir noch die Haare.“

Die Ältere geht Prosecco holen. Moni wartet. 

„Hallo, zwei Prosecco.“ hört man sie im Verkaufsraum sagen. Sie kommt zurück. 
„Richtig schöne Ecke, immer was los. Viele Fahrradfahrer.“
„Wenig Leute mit Helm. Da, jetzt kommt einer mit Helm.“
„Der Alte zieht einen Helm auf, der hat Angst.“
„Der muss auch nicht auf seine Frisur achten. Sieht ja auch aus wie ein Ei.“
„Hast du eigentlich ein Fahrrad?“
„Ne.“
„Ich auch nicht.“

Beide schauen aus dem Fenster. Irgendwann sagt man sich wohl: Jetzt bin ich zu alt zum Fahrradfahren. Draußen fährt auf einem E-Bike eine pinke Steppjacke vorbei. Die Frau vor der Kekstüte am anderen Tisch nickt immer wieder kurz weg. Aus dem Verkaufsraum dreimal klingeln. Weil fast noch „Dreiviertel“ ist. Die Uhr geht nach, es ist 15:48 Uhr. Erneuter Einsatz der Brotschneidemaschine. Leider habe ich den Einsatz verpasst, um die Anzahl der Schnitte mitzuzählen. – Auch egal.

Und wieder zwei Steppjacken auf der Straße. Dunkelblau und knallrot. Steppjacken-Saison in Vechta.

Der Prosecco kommt in zwei kleinen Fläschchen. Moni fragt die Bedienung: 

„Haben Sie sich verbrannt? Das sieht böse aus.“
„Ja. Das ist schon eine Woche her.“
„Die rohe Haut…“
„Ich wollte meinem kranken Mann eine Wärmflasche machen, da ist es rausgegluckert. Bepanten tut man da heutzutage wohl nicht mehr drauf. Was solls, was solls.“
„Unter kaltes Wasser!“
„Ne das macht man auch nicht mehr, sagte mir die Apothekerin. Hab eine Creme bekommen.17,95 Euro für so ein kleines Ding.“
„In unserem Alter darf nicht mehr so viel passieren.“

Die Bedienung versucht den Verschluss der ersten Proseccoflasche abzubekommen, aber die Öffnung stellt sich als Herausforderung dar. Jetzt hat die Flasche doch nachgegeben. Eine ist geschafft. Jetzt die zweite. 

„Vielleicht mit Messer oder Gabel?“
„Nachher ist der Fingernagel auch noch kaputt.“

Die Bedienung geht zurück in den Verkaufsraum. Die Ältere sagt: „Die suchen hier eine neue Bedienung, falls du einen Job suchst.“ Beide kichern.

Prosecco um 15:53 Uhr in Vechta. Zwei neue Löcher im Gürtel sind Grund genug, um zu feiern. Die zweite geöffnete Flasche kommt an den Tisch. Die Damen gießen sich ein. 

„Johannes ist der Sohn von Steffi. Die haben schon drei Kinder. Aber Ohrenarzt ist Katastrophe, dann hab ich die Enkel ja länger. Klara, Tine und Sophie. Wenn sie da sind, muss ich überall die Schlüssel aus den Schränken ziehen. Bin jedes Mal schweißgebadet. Ich kann sie ja nicht anheben wegen den Schultern.“

Klirren vom Anstoßen der Sektgläser. 

„Auf unsere Gesundheit.“ Die Frau wiederholt, wie froh sie sei, dass sie das Haus nicht mehr hat. 20 Jahre hat sie alleine darin gewohnt. Die Frau vor der Kekstüte am Nebentisch möchte zahlen.

„So, Frau Kleemann, das macht 7,10 Euro… Och vielen Dank! Soll ich Ihnen gleich in die Jacke helfen?“ Frau Kleemann möchte noch kurz mit der Bedienung quatschen. Vielleicht hat sie mit ihrem Trinkgeld das kleine Gespräch mitbezahlt. 94 Jahre wird sie. 

„Aber Sie sehen danach nicht aus.“

Tut sie wirklich nicht. Frau Kleemann lacht. Sagt, sie könne nicht klagen. Nur das rechte Bein… Sie hatte auch die Schulter gebrochen. Die Bedienung geht in den Verkaufsraum. Frau Kleemann sitzt wieder allein. Ein letztes Knistern der Kekspackung. Sie packt sie ein, steht langsam auf, um zu gehen. Die rosa Damen reden jetzt ein bisschen leiser.


*Unsere Randnotizen schreiben wir zeitgleich am selben Ort und fügen unsere Beobachtungen im Anschluss zusammen. Alle in diesem Text geschilderten Personen sind echt und nicht frei erfunden. Sämtliche Namen wurden jedoch geändert.