VII. Verd trifft Tante Mia

(Video siehe unten)

 

Wollen wir los?, frage ich.

Nö, sagt Verd. Um 12h geh’ ich auf keine Party!

Es macht Techno auf dem Laptop an und zieht seine Sonnenbrille auf.

Pfrrr, macht es dabei und nickt im Takt.

Zwei Stunden später kann ich es überreden. Wir wollen die ankommenden Feiernden am Bahnhof abholen. 14h20, der Zug aus Bremen hält und eine Woge junger Menschen ergießt sich über das Gleis. Lachend, grölend, trinkend. Ein Mädchen steigt kotzend aus, fast hätte es Verd erwischt. Nach einem ersten Schreckmoment, wiehert es vergnügt: die Party hat doch schon begonnen!!

Wir nähern uns dem Festivalgelände. Ein Gemisch aus vier Technoklängen gleichzeitig nimmt uns ein und zieht uns weiter.

Verd flüstert: Lass uns wieder gehen!

Das sagst du doch immer, antworte ich und gehe mit ihm entschieden durch den Security-Bereich.

Pfrrr, ganz schön groß, sagt Verd skeptisch, als wir das Gelände betreten.

Auf zur Tanzfläche, rufe ich und ziehe Verd mit, direkt ins Gedränge des elektronischen Getöses. Kaum sind wir angekommen, drehen sich uns die Feiernden zu.

Oh, ist das süß!, rufen sie und kraulen Verd. Es ist ein wenig verlegen.

Wie schön, das Pferd!, rufen sie. Darf ich ein Selfie mit ihm machen?

Äh, ja schon, stammelt Verd.

Es grinst ein wenig gezwungen in die Kamera.

Tanz mit mir, ruft der nächste und nimmt Verd beim Huf.

Der Dj tanzt, die Menge tanzt, Verd tanzt.

Das ist toll, wiehert es und hüpft hin und her.

Wer ist eigentlich Tante Mia?, fragt Verd.

Keine Ahnung, rufen die Leute.

Es gibt noch mehr Bühnen!, rufen sie und ziehen Verd mit, so dass ich kaum hinterher komme. Vom Tanzgarten zur Bassküche, von der Diele zur Guten Stube und zurück. Verd tanzt, streckt seine Hufe in die Höhe.

Das ist ja das Verd mit V, rufen manche.

Immer mehr wollen ein Selfie mit ihm, immer mehr wollen mit ihm tanzen. Verd ist außer sich, wiehert schnaubt, tanzt.

Trinkt das Pferd auch Bier?, fragen die Feiernden.

Nee, sage ich.

Och, sagt Verd, mal probieren?

Lass das lieber!, sage ich.

Aber schon steckt es seine Schnauze in eines der Becher, die ihm hingehalten werden.

Weiter, von Bühne zu Bühne.

Die Diele ist am coolsten, ruft es in dem großen Zelt. Es tanzt mit der Menge, steckt seine Schnauze in die Bierbecher, und freut sich über die Lichtinstallation, schaut den sich verändernden Formen auf den Projektionen zu. Dann wird Nebel gesprüht, dann wird Konfetti in die Luft geblasen, dann steigen Feuerstöße auf.

Juhu!, ruft das Pferd. Das ist so schön!

Und: Ich bin ein Star! Die Leute lieben mich!

Wer ist Tante Mia?, fragt es wieder.

Kein Plan, sagen die Leute.

Allmählich werde auch ich lockerer. Ein Pferd darf ja auch mal Party machen, denke ich mir und tanze mit. Die Zeit verfließt und ich merke gar nichts davon. Die schnellen Beats generieren einen Zeitstrudel.

Aber irgendwann merke ich, dass Verd nicht mehr tanzt.

Was ist denn los?, frage ich.

Mir ist schlecht, sagt das Pferd mit einem schuldbewussten Blick. Ich glaube, ich muss hier raus.

Keinem fällt auf, dass wir gehen.

Draußen sind vereinzelt kotzende Menschen verteilt. Ein paar Sanitäter auch. Ein Mädchen schreit einen Jungen an, schubst ihn immer wieder vor die Brust. Ein Junge sitzt in einer Ecke und weint.

Ich glaube, ich muss auch kotzen, sagt Verd.

Dann schreit es entsetzt auf: Ich bin doch ein Pferd! Ich kann gar nicht kotzen! Dann muss ich sterben! Ich sterbe!

Ganz ruhig, sage ich, zaubere ein Glas Wasser her und lasse es trinken.

Oh weh, jammert es, oh weh, oh weh.

Gerade will Verd in die Tasche krabbeln. Aber da taucht zwischen den Bäumen ein Licht auf. Wir bleiben stehen. Ein neuer Techno-Beat ertönt, der Sound wird lauter, das Licht nähert sich. Eine alte Dame mit endlos vielen Falten im Gesicht, einer riesigen Goldkette um den Hals, gestützt auf einem Krückstock, schält sich zwischen den Bäumen hervor. Das Strahlen geht von ihr aus, der Sound geht von ihr aus, übertönt die vier Bühnen in unserem Rücken. Sie geht Schritt für Schritt im Takt. Kurz vor uns macht sie halt. Sie lässt ihren Stock fallen, setzt sich riesige Kopfhörer auf und tanzt, wie wir noch nie jemanden tanzen gesehen haben. Dann zwinkert sie uns zu und verschwindet Richtung Festivalgelände.

Wir stehen noch eine Weile unbeweglich da.

Die Tante ist uns erschienen, flüstert Verd.

Geht’s wieder?, frage ich.

Das war’s Wert, sagt es, legt sich in die Tasche und ist sofort eingeschlafen.