X. Verd und die alte Dichterin

(Video siehe unten)

 

Wir betreten das Altersheim. Sofort stoßen wir auf eine Gruppe Senioren, Verd und ich grüßen. Als die alte Dichterin uns sieht, erhebt sie sich mit einem freudigen Aufschrei. Sie kommt lachend auf uns zugestürmt, krault und tätschelt Verd bis es sich kichernd auf den Rücken rollt und drückt mir fest die Hand.

Hui, kichert Verd. Für deine 92-Jahre bist du aber ziemlich flott unterwegs!

Die Dichterin lacht herzlich. Wir gehen gemeinsam ins Café. Sie schiebt ihren Rollator vor sich her.

– Seit dem Sturz kann ich nicht mehr ohne Rollator, sagt sie bedauernd. Wir setzen uns und bestellen Kaffee, Tee und Maracuja-Creme-Torte. Verd setzt sich besonders nah zur Dichterin. Dafür bekommt es auch immer wieder eine Streicheleinheit.

– Es war schwer einen Platz im Altersheim zu finden, erzählt sie. Die geben sich hier viel Mühe. Aber in meiner Wohnung war es einfach so schön: 72qm und ein eigener Balkon! Eine Lohner Firma hat dann all meine Sachen abgeholt. Ich dachte, ich müsse vor Kummer sterben.

Sofort lächelt sie wieder.

Lass doch mal eines deiner Gedichte hören, sagt Verd, dessen Schnauze ganz weiß und klebrig ist, weil es heimlich von der Maracuja-Creme-Torte genascht hat.

Ein Gedicht? Oh ja, sagt die alte Dame. Sie schließt die Augen und rezitiert uns rhythmisch-melodisch und mit überraschend kräftiger Stimme das „Wunder am Felsgestein“: Ein Blümelein, das die Kraft findet am Felsen aufzublühen, nur mit einem Hauch von Humus. Auch die Dichterin blüht auf, während sie ihre Worte nachklingen lässt.

So schreibe ich, sagt sie.

Verd ist ausnahmsweise ganz still während des Gedichtes. Noch eins!, ruft es dann.

Das lässt sich die Dichterin nicht zwei Mal sagen und bietet uns Gedichte von der Schönheit einer Kastanie, eines Halmes am Hang und den Herbstzeitlosen.

Bist du gläubig? fragt sie Verd.

Nö, eher nicht so, antwortet es. Und fügt kichernd hinzu: Ich glaub nur an Yoga!

Dann lasse ich die religiösen Gedichte weg, sagt die Dichterin.

Auch gut, sagt Verd. Über was schreibst du denn noch?

Über Vechta, ruft sie und ihre Wangen glühen. Hier ist meine Heimat!

Sie erzählt wie sie 37 Jahre durch Heirat im Ruhrgebiet war, weit weg von Vechta. Aber ihr Herz hing immer an der Stadt ihrer Kindheit.

– Seit ich wieder zurück bin, bin ich wieder glücklich, sagt sie.

Hat sich hier denn viel verändert?, fragt Verd gebannt.

Die Dichterin erzählt von früher, als sie zu Fuß gingen, die Pferde vorüber zogen und die Kirchen noch voll waren. Vechta erkenne man kaum wieder, so sehr sei es gewachsen. Ihre Lieblingsorte seien verschwunden oder asphaltiert worden.

– Und die Menschen?, fragen wir.

Ich bin die Letzte, erzählt sie. Früher hatten wir Klassentreffen organisiert. Irgendwann kamen nur noch vier, dann drei… Und jetzt bleibe nur noch ich.

Sie breitet eine ihrer Gedichte-Sammlungen auf dem Tisch auf. Verd läuft darüber und untersucht die sorgsam geschriebenen, zitternden Buchstaben.

Ich habe eine Kladde vollgeschrieben, erzählt die Dichterin. Dann fingen die Seiten plötzlich an, sich büschelweise zu lösen. Da kannst du dich schon mal ans Loslassen gewöhnen, habe ich mir dann gesagt.

Aber jetzt fange ich einfach eine neue Kladde an.

Dann schaut sie auf und sagt ernst und bestimmt: Ich möchte so gern, dass meine Gedichte mich überleben!

 

Oh, ruft sie dann. Gleich ist Zeit! Wir müssen los, der Bus fährt uns zum anderen Gebäude. Ich komme sonst mit dem Rollator nicht hinterher.

Du hast ja ganz vergessen zu essen, ruft Verd entsetzt.

Die Maracuja-Creme-Torte steht immer noch unberührt da …fast unberührt. Hier und da ist der Abdruck einer sehr kleinen Pferdeschnauze zu erkennen.

Ja, sagt sie lächelnd, wenn ich von Gedichten oder meinem Leben erzähle, dann vergesse ich Raum und Zeit.

 

Merkst du etwas?, fragt Verd als wir wieder draußen sind.

Was denn?

Da vorne, die Uhr!

Ich schaue auf die Kirchturmuhr. Sie zeigt erst eine halbe Stunde später an, obwohl wir zwei Stunden bei der Dichterin waren.

Tja, sagt Verd. Die alte Dichterin schreibt außerhalb der Zeit. Mit ihren Worten kann sie die Welt zum Stillstand bringen. Ich sage dir eins: Wenn ich 92 bin, möchte ich auch so sein! Komm, lass uns dort vorne eine Kladde kaufen!