Der Frühling ist dialektisch

Am Freitag um 11 Uhr wurde der Frühling empfangen. Stadt und Universität hatten sich zusammengetan, um ihm ein schönes Fest zu bereiten, das sie im vollverglasten Rathaus ausrichteten. So konnte man sich stets vergewissern, wie es um den Frühling stand; und wahrlich, er schlug sich wacker: Die Bäume gehorchten und wurden grün. Nach anfänglicher Zaghaftigkeit ließ sich gegen Mittag sogar die Sonne blicken. Selbst der Regen respektierte die Zeremonie, er verschwand um 11.20 Uhr, wahrscheinlich hatte man ein Abkommen mit ihm getroffen. Dem Zufall wurde hier sicher nichts überlassen. Eine Stunde später kam der Regen zurück, aber wohl nur, weil man es ihm erlaubt hatte, man brauchte ihn schließlich, denn auch er gehörte zum Ensemble des Stücks, das der Frühling aufführte. Ohne ihn gibt es kein Grün. Dass die Iren eine so schöne grüne Insel haben, verdanken sie ihrem grauen Himmel. Wer dagegen zu viel Blau im Himmel hat, der bekommt eine staubige Wüste. Das ist die ästhetische Dialektik der Naturfarben und der Beschwerdeführer gegen den Regen im deutschen Nordwesten sollte sie mitbedenken.

Die Empfangsredner loben die Zusammenarbeit von Stadt und Universität und blicken optimistisch in die Zukunft – wie so viele Vechtaer, die ich bislang getroffen habe. Es wird die Frage nach dem Guten gestellt, die Bedeutung von Normen und Werten hervorgehoben, auf Max Webers Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik hingewiesen und Kants Pflichtethik zur Referenz erhoben.

Mir scheint: Der Frühling kennt keine Pflicht, keine Verantwortung. Ist er amoralisch? Er tut, was er will, ist von anarchischer Spontaneität. Aber am Ende ordnet und fügt sich dann doch alles dem großen Plan, der auf den Sommer hinausläuft. Gibt es eine spontane Ordnung, eine unsichtbare Hand, die den Frühling leitet?

Schön ist, dass der Frühling keine Exzesse kennt. Er pustet die Backen nicht mit 30, 35 °C auf, die der Sommer offenbar braucht, um sich und den anderen seine Stärke zu beweisen und dabei ausgedörrte, verbrannte Erde zurücklässt, sodass die Leute nicht selten vor ihm fliehen. Niemand flieht vor dem Frühling, er wird gesucht – im Winter im Süden und im Sommer im Norden.

Weil er von sich aus das rechte Maß findet, könnte man meinen, der Frühling sei liberal, aber damit läge man nicht ganz richtig. Er trägt bereits etwas in sich, das über ihn hinausweist. Der Frühling ist dialektisch. In ihm rumort und gärt es, er bereitet etwas vor.

Er kündet vom Aufbruch, kommt aber ohne jedes gewaltsame Jugend-erwache-bau-auf-Gedröhne aus. Die meisten schreiben ein Gedicht, wenn sie ihn sehen. Fontane zum Beispiel: „O schüttle ab den schweren Traum / und die lange Winterruh; / es wagt es der alte Apfelbaum, / Herze, wag’s auch du!“. Mörike: Frühling läßt sein blaues Band / Wieder flattern durch die Lüfte / Süße, wohlbekannte Düfte / Streifen ahnungsvoll das Land.“ Die Comedian Harmonists: „Veronika, der Lenz ist da, / die Mädchen singen trallala …“ Schiller fasst zusammen: „Alles freuet sich und hoffet, wenn der Frühling sich erneut.“ Nur Douglas Adams lässt er kalt: „Der Frühling wird überbewertet.“ Aber Adams ist schließlich geheimnisresistent. Er hat die endgültige Antwort auf alle Fragen gefunden; sie lautet 42.