Der Wille zur Großstadt II – materialistische Fingerübungen

Wie ein Teppich breitet sich die Stadt aus, legt sich über Gebiete, die vor fünfzehn Jahren noch völlig einsam waren und ländlich sein durften. Heute kommt die Stadt zu ihnen und sie müssen sich ihr anschließen. Wie der globale Raum zusammenschrumpft und die allgemeine Metropole sich in Wälder und Wiesen gräbt, so verleibt sich Vechta sein Umland ein. Ein Außen gibt es immer nur vorübergehend. Bevölkerungszuwachs seit 1990: gut vierzig Prozent. Da wo ich herkomme, muss man nicht selten ein Minus davor setzen, dann stimmt die Statistik.

Triebkraft ist die wirtschaftliche Entwicklung. Im Gewerbegebiet West gibt es Häuser, die vor wenigen Jahren noch allein auf weiter Flur standen. Heute gibt es keine Lücken mehr zwischen ihnen und den Industriehallen nebenan, tausende Lastwagen rollen täglich vorbei. Im Jahr 2000 noch hatten etwa 2000 Unternehmen ihren Sitzen in Vechta, heute sind es fast 3000.

Wer bei einem Materialisten in die Schule gegangen ist, der hat gelernt: Das Sein bestimmt das Bewusstsein; und so falsch das in dieser Unmittelbarkeit auch ist, einen wahren Kern hat es dennoch: Man denkt anders, wenn die ökonomische Basis sich verschiebt. In einer Broschüre der Stadt ist nicht ohne stolz von der „Boomtown Vechta“ die Rede, die viele „Global Player“ beheimatet. Wer so redet, hat etwas anders vor, als seine Landidylle zu verteidigen. Der will hinaus, „ins Offene“, das bei Hölderlin noch der „Gang aufs Land“ war, im Falle Vechtas aber umgekehrt den Anschluss an den Weltmarkt meint.

Nun eine wilde Idee dazu, die mir heute beim Joggen kam; Ausgangspunkt ist Marx, der auch etwas zum Stadt-Land-Thema geschrieben hat: „Die Trennung von Stadt und Land kann auch gefasst werden als die Trennung von Kapital und Grundeigentum, als der Anfang einer vom Grundeigentum unabhängigen Existenz und Entwicklung des Kapitals, eines Eigentums, das bloß in der Arbeit und im Austausch seine Basis hat“. Kapitalistisches Wirtschaften in den Städten, Feudalismus auf dem Land. Heute aber, da beinahe alles dem Wertgesetz unterworfen ist und diese „vom Grundeigentum unabhängige Existenz“ nicht mehr allein in den Städten besteht – verschwindet da nicht auch der Stadt-Land-Gegensatz? Oder – und das ist nun die wirklich wilde These – verkehrt er sich in sein Gegenteil?

Dazu ein Exkurs: Es gibt einige Ökonomen, Postkeynesianer, die haben mich eine Zeit lang sehr interessiert, sie heißen Kalecki, Minsky oder Steindl. Sie schreiben von einem Dreiklassenmodell, Proletariat und Bourgeoisie stehen sich gegenüber und dazu kommen jetzt nicht mehr die Grundeigentümer, sondern die „Rentiers“ als jene Klasse, die von arbeitslosem Einkommen lebt, vom Kapitalertrag. Sie kommen zurück, mächtiger denn je, das ist Pikettys große Einsicht und auch Steindl hat so etwas kommen sehen, als er die „Rückkehr der Bourbonen“ befürchtete, die man in keynesianisch-revolutionärer Manier bereits endgültig vom Thron gestoßen zu haben glaubte.

Auf unser Thema übertragen heißt das: Die Feudalherren, das sind nicht mehr die ostelbischen Landjunker, die sind längst verschwunden; sondern sie sitzen jetzt an den großen Börsenplätzen. Auf dem Land herrscht vielleicht noch Kapitalismus, in den Städten aber schon wieder Feudalismus. Der materialistischen Lesart folgend, müsste das einen ganzen kulturellen Rattenschwanz nach sich ziehen, der erst noch zu erforschen ist.

Das klingt sehr aufregend, aber auch ein bisschen absurd. Genug der Theorie. Morgen gehe ich wieder spazieren.