Der Wille zur Großstadt III: Georg Simmel in Vechta: „Die Großstädte und das Geistesleben“

Eine Vermessung der Stadt-Land-Kluft wäre arm ohne Georg Simmel, der vor gut 100 Jahren die Stadtsoziologie begründete. Seinen Aufsatz „Die Großstädte und das Geistesleben“ trage ich nun schon eine Weile in der Tasche mit mir herum und eines Nachmittags, den ich mit frischem Kaffee in der Öffentlichkeit verbringen wollte, zog ich ihn an den Eselsohren hervor, legte ihn auf den Tisch und begann darin zu lesen.

Die Ursache großstädtischer Individualität erkennt Simmel in einer „Steigerung des Nervenlebens“. Ich schaue nach draußen. Vor dem Café ziehen Menschenschlangen vorbei, ihr „Nervenleben“ erfährt ganz gewiss eine „Steigerung“, links und rechts die Warenhäuser, deren Schaufenster sie angrinsen. Sie sind in Shibuya, Werbung, Werbung. Alle wollen einen ins Haus ziehen. Die einzige Ablenkung von der Ablenkung verspricht eine weitere Ablenkung: das Smartphone vorm Gesicht. Der Vorrang der Objekte ist unangefochten, einzig die Form der Zerstreuung ist zu wählen; allein darin zeigt sich vielleicht noch ein Stück Autonomie.

Der Kaffee kommt, er ist heiß und schwarz und gut. In ihm, seiner Tasse, seinem Beikeks und dem Tablett, auf dem er serviert wird, steckt der Weltmarkt, er macht uns zu Konsumkosmopoliten. Ich schaue wieder nach draußen: Die Leute flitzen – ein, zwei, drei große Tüten, Taschen, Beutel in der Hand, über den Rücken geworfen – schnurstracks über den Bürgersteig. Den Fluss stören nur ein paar Eisflaneure, die das Bad in der Menschenbrandung sichtlich genießen und sich treiben lassen von der brausenden Menge, die um sie herumfließt. An ihnen kommt es zu Engpässen, aber auch zu Beschleunigungen, sie verleihen dem Strom eine ganz neue Dynamik. Aus all diesen Bewegungen sprechen „Tempo“ und „Mannigfaltigkeiten des wirtschaftlichen, beruflichen, gesellschaftlichen Lebens“ (Simmel). Sie treten in einen „tiefen Gegensatz gegen die Kleinstadt und das Landleben, mit dem langsameren, gewohnteren, gleichmäßiger fließenden Rhythmus ihres sinnlich-geistigen Lebensbildes.“ Ich weiß nicht, was Simmel mit „Landleben“ meint. In der Kleinstadt, aus der ich komme, ist es nicht so; in Vechta auch nicht.

Denn Vechta ist nicht langsam – die SUVs (zweithöchste Zulassungsdichte der Republik) und Mercedes-Benz (höchste Zulassungsdichte) brausen sogar ausgesprochen schnell über die breiten Boulevards, die ins Zentrum führen. Tempo, Tempo, es hängt nicht in der Luft, sondern steht auf materialistischem Grund. „Die Großstädte sind von jeher die Sitze der Geldwirtschaft gewesen“. Vechta ist „Boomtown“1, „Jobwunder“, „pulsierend“ und „nährt sich“ wie eine „moderne Großstadt […] fast vollständig von der Produktion für den Markt“ (Simmel). Wer für den Markt produziert, verabschiedet sich vom kleinstädtischen „Gemüt“: „Geldwirtschaft aber und Verstandesherrschaft stehen im tiefsten Zusammenhange“, lese ich noch, dann stecke ich den Simmel wieder in die Tasche, zahle und gehe.

Die städtische „Verstandesherrschaft“ zeigt sich mir auf dem Nachhauseweg, der mich am neuen Rathaus vorbeiführt – schon allein, weil das Glasgebilde Walter Gropius‘ „klarem Bauleib“ entspricht und darin Adolf Loos‘ nüchternem Credo moderner Architektur folgt: „Ornament ist Verbrechen“. Das Rathaus-Glashaus ist transparent, vernünftig und darum mit der Aufklärung im Bunde. Im seinem Atrium hat man ein Einstein-Zitat angebracht: „Inmitten der Schwierigkeit liegt die Möglichkeit.“ Es ist die nüchterne Rede eines Naturwissenschaftlers, das Machbare wird sorgfältig ausgelotet, man folgt dem Verstand.

Ginge Simmel heute durch die Straßen Vechtas, er müsste keine seiner Berliner Beobachtungen revidieren; sie hätten auch hier ihre Gültigkeit.