Irrungen, Wirrungen, Herkunftsgerangel

Eine Zeitung hat geschrieben, dass ich aus Tübingen komme. Das ist nicht falsch, immerhin bin ich dort an der Universität eingeschrieben. Und gut klingt es auch noch – nach Hegel und Hölderlin und so weiter. Gerade hatte ich mich mit dem Gedanken angefreundet, da schrieb mir ein Bekannter aus Schwaben, der davon gelesen hatte, ich sei ein Scharlatan. Denn um wirklich aus Tübingen zu kommen, brauche es schon ein bisschen mehr als bloß dort zu studieren. Ei!, dachte ich: Herkunft, Zugehörigkeit, vermintes Gelände, da muss man höllisch aufpassen, sonst hat man die Identitätspolizei am Hals.

Dabei war es nie meine Absicht, mich unter die Tübinger zu mogeln; aber das passiert eben, wenn immer alle wissen wollen, woher man kommt. Wenn man direkt danach gefragt wird, kann man ja nicht nichts sagen. Man könnte sich vielleicht in Schwurbeleien flüchten, vom Anachronismus der Schollenherkunft reden oder auf die Frage „What is your nationality?“ keck mit Humphrey Bogart antworten: „I’m a drunkard“. Aber das stiftet bloß Unmut und Verwirrung und der Fragende lässt in der Regel nicht locker. Also gebe ich ganz unumwunden zu, dass ich aus Ohrdruf komme, aber da fangen die Probleme an, denn das kennt niemand. Dann sage ich, dass Ohrdruf bei Gotha liegt, das kennen immerhin viele, die meisten aber auch nur dem Namen nach, also gehe ich noch eins nach oben und sage: Erfurt. Das funktioniert, das ist fast jedem ein Begriff, aber ich wurde auch schon einmal gefragt, ob das in Niedersachsen liege. Seither sage ich nur noch, dass ich aus Thüringen komme. Ein wenig genuschelt wird Tübingen daraus. Und schon steckt man mittendrin im Identitätsgerangel.

In Berlin gibt es viele Zugezogene, die fühlen sich als stolze Berliner. Das wiederum macht die Urberliner fuchsig, sie halten Zugehörigkeit offenbar für ein Clubgut, das exklusiv bleiben muss und mit zu vielen zusätzlichen Konsumenten an Qualität verliert. In Tübingen hielt man mich auch mal für einen Berliner, weil ich vorher dort gewohnt habe. Ich schaute mich vorsichtig um und weil man nie sicher sein kann, ob nicht doch irgendwo im Raum ein richtiger Hauptstädter steht, der bei Berlinfragen aufpasst wie ein Schießhund und einem an die Gurgel springt, sobald man sich fälschlicherweise unter die Seinen mogelt, musste ich den Mutmaßenden enttäuschen und seinen Spekulationen über meine Herkunft ein Ende bereiten: Ich komme aus dem Thüringer Wald, von dem es etwa bei Rainald Grebe heißt, die Leute dort äßen noch Hunde. Aber das halte ich für eine Übertreibung und passiert wohl nur noch in der Gegend um Suhl.

Einmal fuhr ich mit dem Zug durch Thüringen und als wir gerade den Hauptbahnhof unserer schönen Landeshauptstadt passierten, rätselten zwei norddeutsche Studenten darüber, ob „dieses Erfurt“ wohl schon in Sachsen liege. Die meisten meiner Landsleute im Abteil bekamen einen tüchtigen Schrecken und schüttelten fassungslos den Kopf. Aber den beiden Reisenden kann man keinen Vorwurf machen, denn sie haben nur genau hingehört und dabei festgestellt, dass bei uns doch tatsächlich tüchtig gesächselt wird.

Ich bitte also um Nachsicht für in Zugehörigkeitsfragen nicht ganz Sattelfeste, für all jene, die Erfurt nach Sachsen verfrachten und Vechta nach Nordrhein-Westfalen. Die Bezeichnung „Oldenburger Münsterland“ macht die Zuordnung auch nicht gerade einfacher. In Vechta ist mal ein Popstar aufgetreten, der begrüßte sein Publikum mit einem euphorischen „Hallo Wektra!“. Die Menge war geschockt und wurde still. Die Geschichte erzählt man sich noch immer. Aber wer kann es dem Popstar übelnehmen? Vechta, dein „V“ ist wirklich tückisch, niemand, der nicht hier gewesen ist, weiß, ob es nun „Fechta“ oder „Wechta“ heißt. Ähnlich ist es mit Visbek. Und auch ich wurde schon gefragt, wie es denn in Wechta sei. Aber die Frage kam ja auch von einem Tübinger, der gar nicht aus Tübingen kommt, ein „Neigschmeckter“ wie ich, der im Umgang mit Identitätsfragen stets eine gewisse Nachlässigkeit an den Tag legt.

Und nun muss ich etwas gestehen: Wie sich die Menschen hier nun nennen, wusste ich anfangs auch nicht: Heißen sie Vechtenser? Vechtaer? Vechtegassen? Vechtiaken? Es gibt keine Regel, die apriorische Gewissheit schafft. Also hütete ich meine Zunge, um nicht in ein Fettnäpfchen zu treten, man könnte es mir übelnehmen.

Meine Zunge hütete ich aber nicht, als ich preisgab, dass Ohrdruf nur knapp 6000 Einwohner hat. In der Zeitung stand dann, ich komme „aus einem kleinen Dorf bei Gotha“. Die Formulierung fand ich durchaus zutreffend, aber zu Hause, ei!, was war da los, ein wütender Proteststurm brach los, Beschwerden erreichten mich, Ohrdruf sei doch kein Dorf, ich solle das gefälligst in Ordnung bringen! Die Echauffierten mögen de jure recht haben, de facto aber nicht: Ohrdruf hat formell das Stadtrecht, doch obwohl es asphaltierte Straßen und einen ALDI gibt, wirkt es nicht eben urban. Aber der Druck ließ nicht nach und um die identitär erhitzten Gemüter zu beruhigen, versprach ich, das in seinem Stolz getroffene Ohrdruf zu rächen und etwas ähnlich Despektierliches über Vechta zu schreiben. Das will ich hiermit nun tun: Vechta ist eine kleine Stadt bei Bremen oder Oldenburg. Damit dürfte die Ehre Ohrdrufs wiederhergestellt sein.