Vechta und das Eis

Die Vechtaer scheinen eine besondere Liebe zum Eis zu haben. Auch im März erlebt man ihre Innenstadt nur selten eisfrei. Wenn die Sonne scheint und die Temperaturen ins Zweistellige treibt, ist die Terrasse vor „Gino’s Eiscafé“ gut gefüllt, mächtige Eisbecher drängen sich auf den kleinen Tischen, zwischen ihnen haben allenfalls noch zierliche Espressotassen Platz. Man selbst findet kaum mehr einen. Rundherum stehen üppige Pflanzen, zwei Palmen sind besonders eindrucksvoll . Es ist dann wie Sommer und nicht schwer, sich für ein Eis zu begeistern.

Aber der wahre Liebhaber zeigt sich erst in der trüben Stunde und da haben mich die Vechtaer gestern wirklich überrascht: Ich lief vom Rathaus zum Europaplatz, trug Mantel und Schal. Es war wolkig, windig und kühl, doch vorm „Cortina“ saßen zwei Frauen auf der Terrasse. Sie hofften offenkundig auf Sonne, die aber nicht kam, die dunklen Brillen behielten sie trotzdem auf, sie wickelten sich in Decken und bestellten Jumbobecher mit Melonenscheiben, die an den hochaufgeschossenen Kelchen steckten, und löffelten lustvoll darin herum.

Die Eistreue hat hier bislang noch jedem Wetter getrotzt. Regnet es, nehmen sich die Leute ein Eis auf die Hand, essen vielleicht ein bisschen schneller, ziehen sich Handschuhe an, stellen den Kragen hoch und setzen eine Mütze auf, aber aufs Eis verzichten sie nicht. Mit ihm gehen durch die Große Straße. Gäbe es in Vechta eine Fußgängerzone, diese Straße wäre es. Es gibt aber keine. Und so nehmen sich die Menschen, was ihnen von Rechts wegen verwehrt wird, sie kaufen sich eine Waffel mit zwei, drei schönen, bunten Eiskugeln darin und schlendern sehr langsam an den Schaufenstern vorbei, die Straße interessiert sie gar nicht, nur die Läden und das Eis.

Am Karfreitag sind hier fast alle Geschäfte und Lokale geschlossen, nur die „Gelateria Sorriso“ nicht – Ginos zweite Filiale, die er unterhält, um auch das große Geschäft auf der Großen Straße nicht zu versäumen. Vechta wird ihn sicher nicht enttäuscht und sein Eis auch an einem kühlen Karfreitag gekauft haben.

Natürlich weiß die gesamte Branche um die spezielle Eisliebe der Stadt, man ist gut darauf vorbereitet. Während anderswo die Eisdielen sich an die Öffnungszeiten der Schwimmbäder halten, ergreifen sie hier selbst die Initiative. Sie geben den Takt vor und haben Hochbetrieb schon im März.

Es ist mir aber noch immer ein Rätsel, woher Vechtas besondere Verbindung zum Eis kommt. Denkbar wäre:

  • Das Eis ist hier besonders gut.

  • Es gibt eine Sehnsucht nach Italien.

  • Oder eine nach dem Sommer.

  • Die Vechtaer zeichnen sich durch eine außergewöhnliche Genussfähigkeit aus.

  • Das Eiskartell ist mächtig und hat bereits die Wünsche der Menschen kolonisiert. Sein Angebot schafft sich eine Nachfrage.

  • Der Winter war so warm, dass die Lust am Eisessen nie wirklich vergehen konnte.

  • Es gibt keinen anständigen Kuchen in der Stadt und der Mangel muss durch Eis ersetzt werden.

  • Das Eis in der Hand ist ein stiller Protest gegen das Fehlen einer Fußgängerzone. Wer mit dem Waffeleis läuft, betont seinen Willen zur Flanerie.

  • Die Menschen sind sehr gesellig. Denn ein Eis isst man selten allein.